08.07.2020

Zu: Edvard Munch, Selbstbildnis zwischen der Uhr und dem Bett

Vieux lâche!
 
Saturn ist der Gott, der seine Kinder frisst; der Gott der Zeit, der einzigen Zeit, die wir haben. Dass die Geschichte in sein Zeichen tritt, macht den Denker und Künstler zum Melancholiker.
       Ungerührt, zur letzten Musterung, steht der alte Edvard Munch (1863
– 1944) in seinem Sterbezimmer. Die Wände mit Bildern behängt. Rechts, über dem Bett, ein weiblicher Akt, aufrecht, wie der Maler, nur ohne Gesichtszüge, austauschbar, wie die Standuhr links, ohne Zeitangabe, mit einer schwachen Sonne vor milchigem Blau als Zifferblatt. Lange Schatten liegen auf dem frisch gebohnerten Boden, jäh abgeschnitten vom Rand des Bildes: die Grenze vor dem Abgrund. Sonderbare Mischung aus gelebter Welt – ein Portrait, Erinnerungsfetzen auf dem Orange der hinteren Wand neben der offenen Tür – und metallenem Krankenbettgestell mit gemusterter Decke. In ihren symmetrisch angeordneten Strichen ist Chaos und Ordnung, Bewegung und Stillstand. Die Lebensabschnitte sind nicht eingeritzt in die lebendige Rinde eines wachsenden Baumes, sondern gemalt auf das Leinentuch der Ruhestätte; weder Matratzenlager noch Sterbebett. Der abgemagerte Alte erwartet seine Abholung aufrecht, mit starrem Blick aus dunklen Augenhöhlen. Ein andauernder Zustand inmitten der Reliquien eines tristen Lebens.
   Verlockend und hinterlistig die Deutung von Leben und Tod als Bewegung und Starre, die Vorstellung, dass an jedem Altersabschnitt der Zahn der Zeit nagt, mit jedem Pochen das Ende heraufbeschworen wird, dass nach abgelaufener Lebenszeit, die zu entrichtende Summe an der Lebensuhr abzulesen bleibt: „Qui ronronne au salon, qui dit oui qui dit non, qui leur dit: je t’attends. Qui ronronne au salon, quidit oui qui dit non et puis qui nous attend.“  (Jacques Brel, Les Vieux)
   Die Zeiger der Uhr begleiten den Tag und die Nacht, bestimmen die Rhythmik des Handelns, des Träumens und des Ablebens.
   Maßgeblich beteiligt an der Vorstellung eines Lebensablaufs, der die Stigmata des Scheiterns trägt, sind weniger eigene Verfehlungen, nicht vollzogene Handlungen, unerfüllte Wünsche als vielmehr die Erkenntnis einer nicht mehr einlösbaren Zukunft. Die Eschatologie als entscheidendes Ereignis tangiert die Frage nach sinnhaftem Handeln prägend, obwohl sich ein solches fundierter aus dem Zusammenspiel unterschiedlichster Kräfte und Interaktionen im Alltag sowie biologischen Notwendigkeiten erschließen ließe. Die dem Zivilisationsprozess, der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung parallel verlaufende Verfeinerung der Zeitmessung hat das Alltagsleben dermaßen im Griff, dass Verfehlungen bezüglich gesetzter Zeitrahmen der schlimmsten Art sind. Die Erweiterung der Moseschen Gesetzestafeln um die Aufforderung, nicht gegen den geregelten Ablauf der Zeit zu verstoßen, wird längst profan und unkompliziert sanktioniert. Immer unverfrorener beflügeln die Methoden der Zeitmessung – die Uhr gilt nach wie vor als charismatischster Vertreter – die Phantasie, sie als marterndes Utensil für Überwachung und Eingrenzung individueller Entfaltungsmöglichkeiten zu verfeinern. Der Kirchturmblick untermauert die Vormachtstellung, mahnt selbst dort, wo längst feinste Elektronik die Finger des Herrn bewegt – eine Entfremdung der pikanteren Art –, zu bedenken, dass nach wie vor gilt: Für jeden schlägt die Stunde!

(Auszug aus: Fernand Guelf, Fesseln der Zeit, Passagen Verlag, Wien 2011, S. 33 ff.)

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