Montag, 9/30 Uhr
Ich habe mich schweren Herzens von dem Leben in der Stadt losgesagt. Nun, da ich hier, in der ausgesuchten Einsamkeit, wieder zu mir und zu den wirklich wichtigen Dingen gefunden habe, denke ich in Kürze, mich erneut dem Getümmel und der Zeitlosigkeit, die die Stadt auszeichnen, aussetzen zu können. Meine täglichen Spaziergänge durch die angrenzenden Wälder – es sind nur ein paar hundert Meter  bis ich über einige, in dieser Jahreszeit noch teilweise brachliegenden Felder, in einen kleinen Hain gelange, der mir der liebste, meiner augenblicklichen Aufenthaltsorte ist – haben mir über das Schlimmste hinweggeholfen. Hier sitze ich auf einem Baumstamm und blicke in die Kronen der hohen Fichten, die entgegen der allgemeinen Vorstellung nicht immer grün sind, es sei denn, man bezeichnet alle Nuancen, die bis ins schmutzige Braun reichen können, als grün. Ein kleiner Bach hat sich seinen Weg in den weichen Waldboden gegraben und muntert mich nach den doch ergiebigen Regenfällen der letzten Zeit mit seinem neckischen Plätschern auf.
Ich denke, du kannst nachvollziehen, wie wenig mich die Welt des Alltags im Augenblick berührt.
Ich wäre glücklich, wenn Du meine Ansicht teilen würdest oder in gegenteiligem Fall mir deinen Seelenzustand – ein besserer Ausdruck fällt mir nicht auf – mitteilen würdest.
Mittwoch. 11/15 Uhr
Ich würde mich sehr über ermutigende Worte von dir freuen. Ich will nicht klagen. Aber die Verbitterung macht einsam. Ja, ich glaube ebenfalls, dass es ungeahnte Möglichkeiten gibt, sich nahe zu kommen, ohne gleich unter dem Zwang der körperlichen Nähe zu stehen. Ich lese aber auch aus deinen Zeilen Verbitterung. Deine Erfahrungen haben dich vorsichtig werden lassen, was ich verstehe. Sollen aber Rückschläge uns dermaßen zurücksetzen, dass ein Weiterleben unmöglich wird? Ich denke, dass selbst die Perspektivlosigkeit, kein Anlass sein darf, sich der Zukunft durch einen voreiligen Schritt zu entziehen. Was wird, was kann und was soll aus uns werden? Es ist eine müßige Frage. Zu sehr berührt sie unser Innerstes, schneidet es noch mehr von den Dingen ab, die uns umgeben.
Donnerstag,10/30 Uhr
Zum ersten Mal habe ich heute Morgen bei meinem Spaziergang etwas Frühling spüren können. Er hatte, wie mir schien einzig und allein für mich, einen frischen Geruch über das Grün gelegt, der wie Tau aussah. Ich wollte ihn berühren, zog aber kurz davor, die Hand zurück, aus Angst, das aufkeimende Leben könne von meinem derzeitigen Zustand infiziert werden. Du siehst, ich bin noch immer mit dem Misstrauen und der Unsicherheit des langsam Genesenden behaftet.
Bist Du es am Ende gewesen, die mir eine Melodie aus der Ferne zugerufen hat? Ich wäre bereit einem verführerischen Gesang zu folgen, wüsste ich, dass er ein tragender ist. Noch liebe ich die Einsamkeit, die bei meinen Spaziergängen eine eigenartige Nähe zu den Dingen, die der Zeit unterliegen, herstellt. Dachte ich bisher, Einsamkeit bedeute, sich mit dem Leblosen zu arrangieren, mache ich täglich die Erfahrung, dass das Gegenteilige der Fall ist. Ich empfinde eine tiefe Verbundenheit mit dem Rhythmus der mich umgebenden Natur. Vielleicht wird es mir eines Tages gelingen, das Geschehene als unbedeutendes Teil eines Umfassenden Ganzen zu begreifen. Das macht mir HoffnungIch wollte Dich nicht verletzen!
Samstag, 15 Uhr
Ich wollte Dich nicht verletzen! Natürlich traue ich Dir und natürlich weiß ich, dass du keine Himeropa bist, deren sanfte Stimme mich ins Unglück stürzen will. Aber wäre das so schlimm? Vermag nicht allein die kurzweilige Hoffnung der Trübnis meiner Tage Licht sein?
Also bitte, schreibe nicht derartige Sachen! Wir wollten das Vorgefallene doch vergessen? Nun, da wir entfernt voneinander und doch so nah, soll alles wieder von vorne beginnen? Mir schneidet allein der Gedanke die Luft ab, die ich so dringend benötige.
Das Zimmer in der Herberge ist klein aber gemütlich. Und zu dieser Zeit sind keine anderen Gäste hier. Die Wirtin ist sehr zuvorkommend. Vielleicht etwas zu sehr um mein Wohlergehen besorgt. Ich soll essen, muntert sie mich auf. Das triebe, neben der Frühlingssonne, die Blässe aus meinem Gesicht. Wie aber soll ich essen, wenn mein Magen sich bereits bei dem Gedanken, ihn zu füllen dreht. Es gelingt mir nicht, den kleinsten Bissen hinunterzuschlucken.
Aber deswegen sollst du dir keine Sorgen machen. Das wird sich nach einiger Zeit geben, dann, wenn die schlimmen Gedanken gewichen und die schönen Erinnerungen zurückkehren.
Montag, in aller Frühe
Der gestrige Tag lebte von der Vergangenheit. In der Nacht wurde ich aus einem Traum gerissen, dessen verbliebener Inhalt nur dunkelste Bilder sind. Du weißt, dass ich meine Träume immer wieder wachrufe, um mich an ihnen orientieren zu können, der Wirklichkeit meiner Tage und meiner Gedanken etwas Irreales verleihen zu können. Ich war schweißgebadet, als ich mich in einem Zustand zwischen Bewusstsein und Zeitlosigkeit in vollkommener Dunkelheit widerfand und der Faden zum Leben ein für alle Mal zerrissen schien. Nun weißt du, dass in letzten Tage Hoffnung aufkeimte, ich dachte, mich erneut im Leben zurechtfinden zu können. Nun dieser bittere Rückschlag, der bereits am frühen Morgen meine Befindlichkeit aufs Ärgste beeinflusst, mir Angst vor der Langatmig- und Hoffnungslosigkeit des Tages macht. Das Ausgeliefertsein an eine eigene Wirklichkeit, die ihre Launen wahllos einsetzt und dabei nicht die Stärksten trifft, beunruhigt mich. Dennoch will ich nicht mit meinem Schicksal hadern, zumal ich es noch immer nicht als solches hinnehmen will. Du erkennst den Zweifel, der aus meinen Sätzen spricht, den Unwille mich festzulegen. Ich muss, ich will weiterleben, selbst dann verfügbar bleiben, sollte es darauf hinauslaufen, dass ich mich und die Welt belügen muss.
Montag, am Abend
Heute Mittag konnte ich einen kurzen Spaziergang machen. 
Noch sind meine Kräfte bescheiden. Das Wetter zeigte sich launisch und kam meiner Stimmung entgegen. Ich atmete die kühle feuchte Luft tief ein, so als müsste es ihr gelingen, aufzuwühlen, was sich über die Zeit festgesetzt hat. Fast hätte ich geschrieben, ich wollte das Zimmer lüften, dabei weiß ich doch, dass es sich um ein Labyrinth aus Gängen, Sackgassen und vermoderten Ecken handelt, Jahre lang unbetreten, behütet wie die schmerzhaften Erinnerungen. Man will das Leid, man will den Untergang, man will das Bedauern! Es hilft über eine nicht vorhandene Zukunft hinweg. Du würdest mir antworten: Ein Teufelskreis. Ich würde dir antworten: Ja, aber alternativlos! 
Nun sitze ich hier, denke immer wieder an das Vergangene, das mich wie mein Schatten begleitet. Aber ich will dich nicht mit dem Unabänderlichen belasten. Es wird bessere Zeiten geben.....
... in der Nacht
Seit Längerem habe ich wieder in einem meiner Bücher geblättert. Ich hatte sie eingepackt, nicht wissend, ob es meiner Erholung dienlich sein werde. Sie sind mir fremd! Wie jedes Mal, wenn ich nach längerer Zeit die Sätze lese, die ich bereits mehrfach gelesen, ja, selbst verfasst habe, die mir aber jedes Mal neu und geheimnisvoll erscheinen. Ich werde dir bei Gelegenheit über meine diesbezüglichen Gedanken berichten. Ich hoffe nun auf einen tiefen Schlaf, wissend, dass du geborgen und in Sicherheit bist.
 

 

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