Wir irren vorwärts
„Schicksal“, ,,Kulturpathologie“, ,,Urrhythmus des Lebens“! Eduard Spranger (1882-1963) kommt in der Kulturphilosophie und Kultukritik zum Schluss, dass „die Gegenwart immer Krise ist“. Die an die eigene Existenz gebundene Deutung der Geschichte sagt vom Gefühl her, dass die Vergangenheit, aus der wir kommen, uns in ihren „Ursprüngen als ein Land der
Geborgenheit und der Ordnung, des eigentlich Normalen und des Glücks erscheint“, die Zukunft hingegen als dunkel und bedrohlich. In der Gegenwart, der jeweilige Tiefpunkt, sind Nöte und Leid uns präsent. Die Eschatologien, Entwürfe einer erlösten Zukunft, haben unterschiedliche Gesichter, unterstreichen entweder „den Abfall von rechtem Weg“ oder „die hoffnungsvollen Ansätze, in deren Richtung der Fortschritt zu suchen ist“. Die Aktualität in der Moderne zeigt die „bedenkliche Schwäche“, dass wir „im Grunde von dem unheimlichen Bewusstsein erfüllt sind, dass der moderne Kulturprozess gar nicht mehr lenkbar ist.“ Kultur steht, besinnt sie sich nicht auf überlieferte traditionelle Werte, dem Menschen feindlich gegenüber, übt Zwänge aus, erdrückt die ‚Seele‘.
Diese Rat- und Hilflosigkeit im Anblick des Chaos‘ Zukunft, die Verweigerung, sich auf neue Gegebenheiten einzustellen, aktiv in ihre Gestaltung einzugreifen, finden sich in den verworrenen Versuchen, Kultur und Zivilisation zu trennen. Harmonie wird in der historischen Vergangenheit geortet, funktionierende Volksgemeinschaften gibt es nur in einem ursprünglich unbelasteten Zusammenleben im Einklang mit der Natur, gegenwärtiges Leben ist unterwandert von Subsystemen und Fremdeinflüssen, die eigene Identität definiert sich durch rassisch spezifische, geografische und religiöse Eigenarten.
Der Zeitbegriff bleibt reduziert auf Minuten und Stunden, die den Tagesablauf regulieren. Die bleibenden Jahre werden abgezählt, abgetragen wie eine schwere Last, der Augenblick eines letzten hingehauchten Adieus verpasst. Man wurschtelt sich auf dem Weg in die Katastrophe durch ein geschichtsloses Jetzt. „Wir irren vorwärts“ (Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften). Das Halt- und Bodenlose, das Gefühl, selbst kein Recht mehr auf Zeit zu haben, entspricht der Unmöglichkeit, sich in der Geschichte zu lokalisieren oder gar zu positionieren. Diese tagt auf internationalen Kongressen, jagt sich auf Erkundungsreisen im World Wide Web, ist auf unbestimmte Zeit verzogen, ohne Nachricht, ohne Adresse: Zunehmende Entropie, Inflation des Zusammenhanglosen, die Welt gefangen in den Gesetzen der Thermodynamik.
(Auszug aus: Fernand Guelf, Fesseln der Zeit, Passagen Verlag 2011)
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