Oscar Wilde, Die Nachtigall und die Rose
Wissen wir nicht ebenso wenig über das Innenleben und die Fähigkeiten der Nachtigall, wie es ist, eine Fledermaus zu sein (What is it like to be a bat?, Thomas Nagel)?
Wie wenig wissen wir von der Nachtigall, die aus Mitgefühl ihr Leben für die Erfüllung der Liebe eines Studenten zu seiner Angebeteten geopfert hat?
„Alles habe ich gelesen, was weise Männer geschrieben haben, alle Geheimnisse der Philosophie sind mein, und wegen einer roten Rose ist mein Leben unglücklich und elend,“ klagte der Student, der in seinem Garten keine rote Rose fand, die Bedingung seiner Angebeteten, für das Erhören seines Werbens. Eine Nachtigall, gerührt von dieser Aussage – „Nacht für Nacht habe ich von ihm gesungen, obgleich ich ihn nicht kannte. Nacht für Nacht habe ich seine Geschichte den Sternen erzählt, und nun seh‘ ich ihn. Sein Haar ist dunkel wie die Hyazinthe, und sein Mund ist rot wie die Rose seiner Sehnsucht. Aber Leidenschaft hat sein Gesicht bleich wie Elfenbein gemacht, und der Kummer hat ihm sein Siegel auf die Stirn gedrückt“ – entschloss sich, für das Rot der Rose ihr Leben zu opfern. Beim Mondlicht, begleitet von ihrem Gesang, färbte sie mit ihrem eigenen Herzblut die Rose rot. Die Eiche verstand sie und wurde traurig: „Sing mir noch ein letztes Lied. Ich werd mich sehr einsam fühlen, wenn du fort bist.“ Und die Nachtigall sang für die Eiche, und ihre Stimme war wie Wasser, das aus einem silbernen Krug springt.
Dem Studenten hingegen fehlte jeder Zugang zu dem Vorhaben der Nachtigall. Ihr Gesang, bemerkte er sinnend, ist pure Form, und die schönen Töne ihrer Stimme sind ganz ohne Sinn, drücken nichts aus, sind ohne praktischen Wert. Und er notierte: „Sie hat ein Formtalent, das kann ihr nicht abgesprochen werden. Aber ob sie auch Gefühl hat? Ich fürchte, nein. Sie wird wohl sein wie die meisten Künstler: alles nur Stil und keine echte Innerlichkeit.“
Beim Anbruch der Nacht flog die Nachtigall zu dem Rosenstrauch und drückte ihre Brust gegen den Dorn, immer fester und „lauter und lauter wurde ihr Lied. Die ganze Nacht sang sie, die Brust gegen den Dorn gepresst, und der kalte kristallene Mond neigte sich herab und lauschte. Der Dorn drang tiefer und tiefer in ihre Brust, und ihr Lebensblut sickerte weg“, bis nach einer langen Nacht des Gesanges, ihr Herzblut eine weiße Rose rot gefärbt hatte.
Die Stimme der Nachtigall wurde schwächer, ihre kleinen Flügel begannen zu flattern, und ein leichter Schleier kam über ihre Augen. Schwächer und schwächer wurde ihr Lied, und sie fühlte etwas in der Kehle.
„Dann schluchzte sie noch einmal auf in letzten Tönen. Der weiße Mond hörte es, und er vergaß unterzugehen und verweilte am Himmel. Die rote Rose hörte es und zitterte ganz vor Wonne und öffnete ihre Blätter dem kühlen Morgenwind. Das Echo trug es in seine Purpurhöhle in den Bergen und weckte Schläfer aus ihren Träumen. Es schwebte über das Schilf am Fluss, und der trug die Botschaft dem Meere zu.“
Die Rose aber wurde vom Studenten in die Gosse geworfen – ein Wagenrad fuhr darüber. Die Nachtigall schwieg. Sie lag tot im hohen Gras, den Dorn im ausgebluteten Herzen.
„Wie dumm ist doch die Liebe“, sagte sich der Student, als er fortging, „sie ist nicht halb so nützlich wie die Logik, denn sie beweist gar nichts und spricht einem immer von Dingen, die nicht geschehen werden, und lässt einen Dinge glauben, die nicht wahr sind.“
Die Unfähigkeit des Studenten dem Außerordentlichen etwas abzugewinnen, trifft am Ende ihn selbst.
„Sie [die Liebe] ist wirklich etwas ganz Unpraktisches, und da in unserer Zeit das Praktische alles ist, so gehe ich wieder zur Philosophie und studiere Metaphysik. So ging er wieder auf sein Zimmer und holte ein großes, staubiges Buch hervor und begann zu lesen.“
Kommentare
Keine Kommentare.
Schreibe einen Kommentar