Morgendlicher Waldgang
Morgendlicher Waldgang
In dem Gedicht „An die Nachgeborenen“ schrieb Bertold Brecht in den dreißiger Jahren: „Was sind das für Zeiten, wo / ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“
Gegenwärtig ist es fast ein Verbrechen, nicht über Bäume zu sprechen.
In den ersten Morgenstunden verlasse ich das Haus und gehe, zumeist noch bei Dunkelheit, Richtung Jongebësch. Von dort führt mein Weg vorbei an einem Weiher Richtung Zéisseénger Tip, dann hinunter zum Schireslach.
Bei meinem täglichen Flanieren durch die Wälder meines Wohnorts lausche ich dem zauberischen Flüstern der Blätter und von den ersten Frühlingstagen bis in den Herbst hinein den Gesängen der Vogeluhr. In der finsteren Jahreszeit, wenn alles um mich ruht, meine Augen dem Dunkel erliegen, tauche ich ein in die Stille, in das Verborgene des Daseins und versinke in der Stummheit.
Zwischen Dunkelheit und erstem Tageslicht, die Zeit, in der das Dasein noch Traum, die Gedanken noch ein Nebel im wechselnden Spiel von Werden und Vergehen sind, über Wald und Wiese ein feiner Schleier liegt, bin ich Teil dieses Ganzen, das in seiner unendlichen Vielfalt in sich eins ist.
Nähere ich mich am Ausgang des Laangebësch der Straße und den Häusern im Pessendall werden meine Schritte unruhig, meine Gedanken heimatlos. Der verwunschene Weiher, der Himmel in den Kronen der Bäume, der Atem der Felder und eine versöhnliche Melodie sind nur noch Traumbild einer Vergangenheit, die mit dem Beginn eines neuen Tages für immer zu entschwinden droht.
Diese Vergangenheit hat etwas Eigenes: Die Erinnerung aus Träumen, vergilbten Bildern an eine verlorene Zeit und die Hoffnung, dass, wer weiß, auf einem dieser Spaziergänge das Bild einer längst vergessen geglaubten Liebe aus dem Zwielicht auftaucht und ein neues Feuer der Leidenschaft in mir entfacht.
Das Gespräch über Bäume ist mehr als ein Gespräch über gegenwärtige und kommende Untaten!
(in: Paysages préurbains, Vorstädtische Landschaften, Leudelange, La Naturelle, hrsg.: Ed Maroldt, Raphael Gindt, Christian Schaak, Commune de Leudelange 2021, S.49)
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