Garms Brief
Liebe Hel,
Wenn Du diese Zeilen liest, hat das Leben mich eingeholt. Meine letzten Schritte sind die eines Betrübten, inmitten der röchelnden Züge eines Moribundus.
Noch einmal werde ich mich mit der Sonne messen – sie wird noch da sein, wenn die Lichter der Städte längst verloschen sind.
Bist Du erstaunt über mein Verhalten?
Vertraut mit der Dunkelheit, kennst Du die Tiefen der Seele, in die die Langeweile taucht.
Als Du mir von wundersamen Pflanzen, vom Licht des Tages, von wilden Flüssen und stillen Seen, von Meeren, die riesige Schiffe befahren, von Himmeln, die vom Geräusch fliegender Maschinen durchstochen werden, von der Pracht der Paläste, von Häusern, die sich zum Himmel strecken, erzähltest, konnte ich den Gesang der Vögel, im Plätschern der Bäche und im Rauschen der Bäume, versöhnliche Geschichten hören.
Die Raserei der Zeit, die Sinnwidrigkeit in ihrem Lauf hast Du mir verschwiegen.
Ich habe Zusammenhänge gesucht, wo keine waren und in der Verwirrung Verbündete.
Vom Sog des Grauens ins Chaos gestürzt, hoffe ich nun Dich wiederzufinden.
Geliebte Hel! Noch immer liegt auf allem Geheimnisvollen der Geruch Deines Daseins. In jeder Deiner Umarmungen tut sich eine Leere auf, Raum für tausend neue Geschichten – eine jede ein Neubeginn. Hauche mit jedem Atemzug eine Viola auf die harte Erde, dass sie unter ihren Flügelschlägen erschüttere.
Dein Garm
(Auszug aus: Fernand M. Guelf, Ich kann nur am Anfang oder am Ende der Welt leben, Pasagen Verlag, Wien 2013.)
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