05.05.2020

Die Hand am eigenen Puls

Ich höre den Wind und die Welt. Am Rauschen der Blätter erkenne ich die Jahreszeit, am Flügelschlag der Vögel die Zeit des Einsäens, der Ernte und der Muße. Ich deute die Konstellation der Sterne, beobachte die Wellen des Meeres. Mal weich, mal wild überrollt sie das Gestade.
Ich atme im Rhythmus der Welt.
Mich beseelt der Wunsch auf einem Meer zu segeln, dessen Bewegungen voraussehbar sind. Den Wellen zu folgen, auf deren Kämmen und Tälern ich mich wiegen lasse, wo ich im friedlichen Geräusch der Brandung die große Symphonie vernehme, in der alles harmonisch zusammenwirkt.
Ich, eine Stimme im Gesang der Sphären, bin um den richtigen Einsatz bemüht, bereit den An- und Vorgaben der Partitur zu folgen.
Doch ich glaube, mein Herz spielt eine eigene Melodie.
Bald schon, gelangweilt von der Monotonie der Abläufe, werden meine Herzschläge mutiger. Erst ungeschickt, stockend, dann leidenschaftlich, mutig.
Ich, der Ausgestoßene, der sein befristetes Dasein dem Augenblick schuldet, schafft immer neue Bilder. Jede Bewegung ist eine Bedrohung, jeder Tropfenschlag ein Donnergehall, jedes Licht ein blitzendes Unwetter.
Ich bin ein Eroberer, ein Pionier, ein Furchtloser in dem unentwirrbaren Durcheinander und unkoordiniertem Hin und Her: Ein kurzes Verweilen, ein plötzliches Rückwärts, ein verwegenes Nachvorne.
Allein der Sturm hinterlässt Erinnerungen!
Nun haben die Kräfte der Natur mich geortet, deuten bedrohlich mit dem Finger auf mich, der gewagt hat, die Hand an den eigenen Puls zu legen.

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