Der Verfall der Bücher
Was die Kommunikationsunfähigkeit oder die neuen Wege der Verständigung anbelangte, machte sich Steiner keine weiteren Gedanken.
Vielmehr beschäftigte ihn weiterhin seine Abkehr von der Welt der Bücher, sein Vertrauensverlust in das Gebundene, das Zusammenhängende. Die Bücher waren in den Sog der Veränderungen geraten, in eine Spirale des Untergangs, in den Abfluss der Geschichte. Nun könnte man behaupten, Bücher könnten sich nicht wehren. Sie seien tote Wesen, nur hin und wieder vom Geist eines Lesers zum Leben erweckt, von der Zeit unabhängig. Steiner aber war von ihrer Eigenschuld überzeugt. Für ihn bestand ihr Wesen darin, sich zu wehren. Anzutreten gegen das Eindeutige. Anzuschreiben gegen alles, was sich auf dem sicheren Pfad der Durchschnittlichkeit bewegte, sich gegen die Einebnung der Gedanken zu wehren.
Steiner glaubte, die Bücher seien nur mehr Schatten ihrer Möglichkeiten. Die einst so Geliebte habe sich verändert, und diese Veränderung habe einen verheerenden Einfluss auf sein Gefühlsleben. Die Angebetete war ihm nicht mehr vertraut. Er hatte den Zugang zu ihr verloren. Der verlockende Duft des bedruckten Papiers war in einen modrigen Geruch übergegangen. Das Erhabene, Majestätische hatte sich dem Flüchtigen, Kurzzeitigen ergeben. Steiner war wie selten zuvor orientierungslos.
Die Leere, die den überkommt, der sich nach langem Leugnen eingesteht, dass die Liebe, die ihn am Leben hielt, erloschen ist, hielt ihn gefangen. Nur noch selten überflog er die Titel in den Bestsellerlisten. Die Sprache der wenigen Bücher, in denen er geblättert hatte, war ihm fremd. Metaphern überforderten ihn, die Selbstbekenntnisse der Autoren fand er abstoßend. Ebenso ihre stilistischen Mittel. Brachylogie, Chiasmus, Ellipse riefen Brechreiz bei ihm hervor. Er selbst war, obwohl er fleißig Onomatopöie trainierte, sich in Tierlauten übte, Neologismen einsetzte, unfähig geworden, elementare Sätze zu formulieren. Es war eine andere, ihm völlig unverständliche Sprache, die geredet und geschrieben wurde. Er hatte den Zugang zur Welt womöglich für immer verpasst. Die Zeiten, in denen sich Trakl, Benn und Verlaine um seine Liebe zum Verfall gekümmert hatten, es Nietzsche gelungen war, seinen lebenserhaltenden Hass zu schüren, er mühelos mit einigen Heine- und Rilke-Versen auf dem hart umkämpften Liebesmarkt bestehen konnte, waren nichts anderes als Selbstbetrug gewesen. Es gelang ihm nicht mehr, das Bild der verflossenen Liebe vor dem inneren Auge, vor dem endgültigen Zerfall zu retten. (Auszug aus: Fernand Guelf, Sage dem König...)
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